Modellierung mit
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D Anwendungsbeispiel: Internet-basiertes Auktionssystem

Mit der enormen Verbreitung und hohen Verfügbarkeit des Internets haben kommerzielle Anwendungen eine enorme wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung erfahren. Viele dieser Anwendungen werden unter dem Sammelbegriff E-Commerce zusammen gefasst.

Softwaresysteme zur Unterstützung von unternehmensübergreifenden oder unternehmensinternen E-Commerce Anwendungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einer Reihe von Anforderungen besonders stark genügen müssen:

  • Neue oder verbesserte Funktionalitäten müssen sehr schnell verfügbar gemacht werden, denn „time-to-market“ ist ein wesentlicher kompetitiver Vorteil gegenüber der Konkurrenz, die im Internet nur einen „Click“ vom eigenen Angebot entfernt ist.
  • Aufgrund des leichten Wechsels der Kunden zur Konkurrenz ist die Kundenzufriedenheit unter anderem durch eine hohe Verfügbarkeit und Ausfallsicherheit zu gewährleisten.
  • Die angebotene Funktionalität muss eine hohe Qualität und Fehlerfreiheit besitzen.
  • Den Kunden und Betreibern müssen mehrseitige Sicherheitskonzepte zur Verfügung stehen, da verschiedene Anwendergruppen mit höchst unterschiedlichen Zielen an einer Applikation partizipieren.

Diese Anforderungen sind nicht ohne weiteres vereinbar und stellen damit besonders hohe Ansprüche an einen Softwareentwicklungsprozess für E-Commerce-Applikationen. Denn es ist für eine Firma, deren Geschäftsmodell auf der Funktionsfähigkeit ihrer über das Internet angebotenen Applikationen basiert, unverzichtbar, zu sichern, dass die Software mit hoher Ausfallsicherheit und korrekt arbeitet.

Die deshalb vorgeschlagene Methodik adressiert deshalb in besonderem Maße die oben genannten Anforderungen. Die technische Umsetzung von Internet-Auktionen eignet sich sehr gut als Anwendungsbeispiel für diese Methodik. Nachfolgend wird zunächst das nachfolgend beschriebene Anwendungsbeispiel in die E-Commerce-Landschaft eingeordnet. Dann wird eine Beschreibung der Geschäftsanwendung, die den Internet-Auktionen zugrunde liegt, vorgenommen. Das Anwendungsbeispiel wurde einem in der Praxis laufenden System entnommen und demonstriert so die Tragfähigkeit der beschriebenen Methodik für E-Commerce-Anwendungen.

D.1 Auktionen als E-Commerce Applikation

Ab etwa 1960 wurden die ersten geschäftstauglichen Softwareanwendungen entwickelt und in Unternehmen eingesetzt. Die Applikationen dieser ersten Generation waren weitgehend Insellösungen die keinen Datenaustausch untereinander erlaubten. In der zweiten Generation wurden diese Applikationen unternehmensweit vernetzt. Integrierte Datenbasen erlauben seitdem unterschiedlichen Applikationen Zugriff auf die jeweils benötigten Daten.

In der seit einigen Jahren in Entstehung befindlichen dritten Generation werden unternehmensübergreifende Geschäftsvorfälle realisiert.

Die Anbahnung und Durchführung von Handelsgeschäften übers Internet sowie die elektronische Bezahlung ermöglicht vielen Unternehmen ihre Einkaufs- und Vetriebswege massiv zu verändern. Insbesondere Internet-Auktionen haben sowohl bei Endkunden als auch bei industriellen Ein-/Verkäufen Eingang gefunden.

In der klassischen Auktion stehen einem Verkäufer mehrere potentielle Käufer gegenüber, die sich durch mehrfache Gebotsabgabe solange überbieten, bis ein Maximalpreis erreicht ist. Durch die Nutzung des Internet als elektronisches Beschaffungsmedium hat sich eine zweite Auktionsform, die Einkaufsauktion, auch inverse Auktion (engl. „reverse auction“) genannt, durchgesetzt. In dieser steht ein Abnehmer mehreren potentiellen Lieferanten gegenüber, die sich im Auktionszeitraum gegenseitig unterbieten, bis ein Minimalpreis erreicht ist.

In Abbildung D.1 ist der Ausgang einer der ersten und effektivsten Einkaufsauktionen dieses Landes zu sehen. Die Graphik zeigt die Sicht eines externen Beobachters, der statt echten Preisen eine auf 100% umgerechnete Preisskala sehen kann und der die Bieter weder identifizieren noch unterscheiden kann. Im Februar 2000 wurde für den Hauptstandort eines großen deutschen Bankhauses unter 14 Anbietern der Jahresbedarf an Strom versteigert. Es wurde in zweieinhalb Stunden eine Einsparung von über 46% erreicht [Rum02aBöh00Dei00]. Die Auktion wurde von der in diesem Buch als Anwendungsbeispiel vorgestellten und von uns betriebenen Auktionssoftware durchgeführt.

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Abbildung D.1: Beispielauktion Strom mit 46% Einsparung

Abbildung D.1 zeigt eine vertikale sowie zwei horizontale Linien im Auktionschart. Diese Linien dienen zur Parametrisierung von Einkaufsauktionen. Sie erlauben einerseits dem Einkäufer bei Verfehlung eines Zielpreisniveaus (Anzeige durch die untere horizontale Linie) von seinem Kaufwunsch zurück zu treten. Andererseits motivieren sie die Bieter nicht bis zur letzten Sekunde der Auktion zu warten, sondern frühzeitig Gebote abzugeben. Damit erhalten die Mitbieter die Möglichkeit darauf adäquat zu reagieren. Das Ende der offiziellen Auktionszeit und damit der Beginn der Verlängerungszeit wird durch die vertikale Linie angezeigt.

D.2 Die Auktionsplattform

Ein wesentliches Merkmal des Auktionssystems ist die graphische Oberfläche, die es den Bietern erlaubt, über das Internet Gebote abzugeben. Weitere Teilnehmer können mit derselben graphischen Oberfläche den Auktionsverlauf verfolgen, ohne jedoch aktiv eingreifen zu können. Als Basistechnologie werden Java-Applets verwendet. Java-Technologie eignet sich deshalb, weil es auf der Anwenderseite eine graphische Aufbereitung der Ergebnisse erlaubt, eine hohe Interaktionsrate (Refreshtime unterhalb einer Sekunde) ermöglicht und trotzdem die Bandbreite der Kommunikation zwischen Auktions-Server und Applets klein hält.

Das Applet bietet mehrere „Karteikarten“ zur Darstellung unterschiedlicher Ansichten. Exemplarisch wird hier im Wesentlichen die graphische Darstellung eines Auktionsverlaufs erklärt und eine Übersicht aller zur Verfügung stehender Seiten des Auktions-Applets gegeben.

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Abbildung D.2: Darstellung eines Auktionsverlaufs

In Abbildung D.2 ist eine Ansicht zu sehen, die ein externer Gast zur Beobachtung der Auktion nutzt. In ihr sind wesentliche Auktionsinformationen zur Identifikation der Auktion, Datum und Uhrzeit des Servers, die Anzahl bisheriger Gebote, die Anzahl der aktiven Bieter, die mögliche Schrittweite der Gebote, die Auktionsform und die aktuellen Gebote (hier in % skaliert) zu sehen. Die vier Auktionszustände noch geschlossen, offen, in Verlängerung und beendet zeigen, ob Gebote abgegeben werden können. Eine Meldungsleiste beschreibt den aktuellen Verbindungszustand und eventuelle Nachrichten vom Auktionator an die Teilnehmer. Bei Bietern ist ein zusätzliches Eingabefeld für Gebote sichtbar, das Bietern ermöglicht, in den Auktionsverlauf einzugreifen.

Die Graphik wird durch eine Nachrichtenliste ergänzt, die unter anderem die präzise Liste aller Gebote inklusive der Gebotszeitpunkte beinhaltet. Während externe Beobachter alle Gebote anonymisiert sehen, können Bieter ihre eigenen Gebote gegenüber den Geboten der Konkurrenz durch ein entsprechendes Symbol identifizieren. Es ist möglich, einem internen Beobachter die gleiche Information wie einem Bieter zukommen zu lassen. Dies ist zum Beispiel interessant, wenn Bieter und Beobachter von demselben Unternehmen sind. So kann zum Beispiel einem Kollegen ein beobachtender Zugang mit eigener Berechtigung ermöglicht werden, ohne dass das Risiko besteht, dass dafür ein Bieter-Zugang weitergegeben werden könnte.

Der Auktionator kann jederzeit jedes Gebot einem Bieter zuordnen, der Abnehmer hat diese Möglichkeit mit Ende der Auktion.

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Abbildung D.3: Verschiedene Ansichten im Applet

Das Auktions-Applet bietet eine Anzahl weiterer Ansichten, die dem Teilnehmer zum Beispiel dazu dienen, einen Überblick bei parallel laufenden Auktionen zu erhalten oder das Auktions-Applet geeignet zu konfigurieren. Abbildung D.3 bietet eine Zusammenstellung eines Teils dieser Ansichten.

Wesentliche Elemente einer Einkaufsauktion sind die beiden Preislinien, die den historischen und den erwünschten Zielpreis markieren. Beide Preise werden vom Abnehmer bestimmt. Der historische Preis charakterisiert wieviel der Abnehmer bisher für die Ware bezahlt hat und dient den Bietern häufig als Ausgangspunkt für ihre Gebote. Der Zielpreis ist hingegen meist vertragsrechtlich relevant. Wird dieser erreicht oder unterschritten, so ist der Abnehmer verpflichtet ein Gebot – meistens das niedrigste – anzunehmen. Es liegt deshalb im Interesse der Bieter den Zielpreis zu erreichen. Eine Schrittweise, die typischerweise bei ca. einem Tausendstel des historischen Preises liegt, verhindert, dass die Bieter in beliebig kleinen Schritten Gebote abgeben.

Eine Internet-Auktion findet typischerweise in einer bis drei Stunden statt. Um zu verhindern, dass die Gebote im Wesentlichen in den letzten Sekunden abgegeben werden, wird die Auktionszeit in eine offizielle Auktionszeit und eine Verlängerungsphase eingeteilt. Die mittlere senkrechte Linie markiert den Beginn der Verlängerungsphase. Wenn kurz vor Ende der offiziellen Auktionszeit ein Gebot abgegeben wird, so verlängert sich die Auktionszeit. Diese Verlängerung ist im Normalfall auf drei Minuten eingestellt. Dadurch wird der Konkurrenz die Möglichkeit gegeben, auf ein Gebot zu reagieren. Wiederholte Verlängerungen der Auktionszeit sichern jedem Bieter eine ausreichende Reaktionszeit und führen schließlich zur Festlegung eines optimalen Ergebnisses. Wird das System so eingestellt, dass die Verlängerungszeit von anfangs drei Minuten bei iterierter Verlängerung linear verringert wird, so entsteht bei gleichbleibender Schrittweite in der Endphase ein parabelartiger Preisverlauf analog zu Abbildung D.2.

An einer Auktion partizipieren eine Reihe von Teilnehmern mit sehr unterschiedlichen Interessen. Entsprechend sind vier Rollen für die Teilnahme vorgesehen, von denen sich die Rolle des Beobachters in drei Unterrollen gliedert. Der Auktionator beobachtet den Auktionsverlauf unter voller Einsicht in alle relevanten Daten. Der Abnehmer sieht während der Auktion einen anonymisierten Verlauf, der ihm zunächst nicht erlaubt die Gebote den Bietern zuzuordnen. Dadurch werden eventuelle Nebenabsprachen ausgeschlossen. Bieter erhalten eine anonymisierte Sicht der Konkurrenz, können aber ihre eigene Gebote in der Gebotsgraphik identifizieren. Ihnen ist auch bekannt, wie viele Konkurrenten aktiv sind. Unabhängige Beobachter sehen anonymisierte Graphen, gegebenenfalls mit zusätzlicher Skalierung der Preise auf eine 100% Skala. Diese Sicht eignet sich insbesondere auch zur Demonstration vor einem breiteren Publikum. Bieter erhalten darüber hinaus die Möglichkeit, Kollegen als Beobachter zuzulassen, die eine Auktionssicht mit den Bieter-Informationen enthalten, jedoch keine Gebotsabgabe ermöglichen. Eine Reihe spezialisierter Funktionen, wie zum Beispiel die Kombination mehrerer Auktionen zur Aufteilung eines Auktionsgutes in mehrere Slots, haben sich in der Praxis als hilfreich erwiesen. So können beispielsweise verschiedene Abgabepunkte einbezogen werden. Zum anderen können so Güter, die sich in Preis, Qualität oder Logistikkosten teilweise erheblich unterscheiden und deshalb nicht direkt vergleichbar sind, in parallelen Auktionen miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Ein wesentliches Merkmal einer Auktion ist die wechselseitige Anonymität der Bieter. Auf diese Weise werden Preisabsprachen zwischen Konkurrenten wesentlich erschwert. Ist während einer Auktion die – jederzeit abrufbare Anzahl der Mitbieter – größer als erwartet, so ist damit jegliche Preisabsprache hinfällig. Damit das Zutrauen der Bieter in die Richtigkeit dieser Informationen sowie Korrektheit und Fairness des Auktionsablaufs sichergestellt werden kann, ist die Unabhängigkeit des Auktionators sehr wichtig. Das bedeutet auch, dass bei Internet-basierten Auktionen genauso wie bei traditionellen Auktionen, der Auktionator eine unabhängige dritte Instanz neben dem Abnehmer und den Bietern sein muss, und Auktionsplattformen nicht vollständig in ein Firmenportal integriert werden können.

Die Auktionsplattform ist bisher aus der Sicht von Einkaufsauktionen beschrieben worden. Normale Auktionen, bei der ein Gut verkauft wird, können mit der Auktionsplattform aber ebenso realisiert werden.


Bernhard Rumpe. Agile Modellierung mit UML. Springer 2012